Tief im Westen

Am 9. Juli 2014 fuhr ich gemeinsam mit meiner Frau und meinen Kindern morgens in der Frühe los, um pünktlich in Bochum zu sein.

Als wir losgefahren sind, hatte es sich schon angekündigt, dass dies kein normaler Tag werden sollte. Unser Keller war über Nacht aufgrund des Regens und eines Rohrbruchs, mit Wasser vollgelaufen. Während der Fahrt informierte ich unseren Vermieter und delegierte alles weitere an eine Nachbarin die sich freundlicherweise bereit erklärt hatte, während unserer Abwesenheit zu schauen ob der Vermieter tatsächlich schnell Abhilfe schafft.

Während der Fahrt war ich ziemlich angespannt und nervös. Ich freute mich einerseits Ärzten gegenüber zu stehen die mir evtl. mehr zu meiner Krankheit sagen können aber ich machte mir auch Sorgen ob sie mir tatsächlich helfen können.

In der Klinik angekommen, konnte man schon sehen dass es kein normales Krankenhaus ist. Ich sah Patienten mit unterschiedlichsten Krankheitsbilder und das flößte mir ehrlich gesagt, jede Menge Respekt ein. Ich sah Fixatoren für Knochenbrüche die ich so noch nie gesehen hatte. Ein Mann hatte das komplette(!) Bein von oben bis unten fixiert, ein anderer wurde aufgrund einer massiven Verbrennung des gesamten Körpers, komplett am Gesicht rekonstruiert. Ja, ich war tief im Westen ziemlich sprachlos.

Die Wartezeit war dementsprechend hoch und mit den Kindern, natürlich auch ziemlich anstrengend. Aber ich war froh meine komplette Familie dabei zu haben; sie haben mir die Kraft gegeben die ich gebraucht habe nicht durchzudrehen.

Irgendwann wurde ich aufgerufen. Herr Dr. med. J. Kolbenschlag stand mir gegenüber und ich muss sagen, der helle Wahnsinn wie dieser Arzt sich um mich und um meine Familie gekümmert hat. Wir waren über 1(!) Stunde im Sprechzimmer und uns wurde, nach Durchsicht aller mitgenommenen Unterlagen, erklärt welche Optionen ich habe. Auch hier bestätigte man uns wiedereinmal, dass es sich um eine sehr seltene Tumorart handelt und es keine richtigen Erfahrungswerte dazu gibt. Auch wenn es dort schon mal Patienten gegeben hat mit einer solchen Tumorart, ist es bei jedem anders und hängt immer davon ab zu welchen Anteilen ein Tumor gut- und bösartig ist. Des Weiteren spielt es immer eine große Rolle aus welchem Nerv der Tumor rauswächst.

Folgende Optionen wurden mir, zusätzlich zu den obligatorischen 3-monatigen MRT-Kontrollen, seitens des Arztes vorgeschlagen:

  1. Abwarten und beobachten wie sich der Resttumor verhält. Hoffen, dass die Schmerzen weniger werden und der Tumor nicht weiter wächst. Sobald eine negative Veränderung festgestellt wird, sofort wieder vorstellig werden. Evtl. noch Ergotherapie dazu nehmen und die fehlende Sensibilität des Fußes zu verbessern.
  2. Ein sogenanntes Neuro-Implantat am betroffenen Nerv. Das Implantat stimuliert in regelmäßigen Abständen den betroffenen Nerv und beschleunigt so die Regenerierung. Transformers für Anfänger sozusagen.
  3. Eine erneute Operation die unter dem Mikroskop durchgeführt wird und die restlichen 10% des Tumors entfernt werden. Der betroffene Nerv wird hierbei freigelegt und vom Narbengewebe befreit.

Da die Optionen 1 und 2 mit der Ungewissheit verbunden waren dass die Schmerzen nicht sofort aufhören würden und ich weiterhin abwarten müsste ob das alles so funktioniert wie angedacht, habe ich mich ohne lange zu überlegen, für Option 3 entschieden. So ist alles an Tumor aus mir raus und die Ärzte können schauen ob der Nerv sehr stark beschädigt ist bzw. alles erneut säubern.

Es war ein gutes Gespräch und ich fühlte mich dort richtig gut aufgehoben. Der Arzt machte den Eindruck als wüsste er wovon er redet und er konnte mir, soweit möglich, die Ängste nehmen die in mir rumschwirrten. Ich vereinbarte also einen OP-Termin der 4-5 Wochen später stattfinden sollte und fuhr anschließend nachhause.

Schon während der Rückfahrt versuchte ich, wie oben erwähnt, Neuigkeiten über das Problem im Keller zu bekommen. Der Vermieter hatte morgens gesagt er würde sofort jemand rausschicken der sich das anschaut und behebt. Mit dieser Zusage waren wir morgens losgefahren.

Leider teilte mir aber meine Nachbarin telefonisch etwas anderes mit. Von ca. 8:00 Uhr bis ca. 16:00 Uhr war kein Handwerker da um die Sauerei zu beheben! Mein Blut geriet in Wallung und ich konnte spüren wie sich der Hass mehr und mehr den Weg nach außen bahnte. Ich weiß nur noch, dass ich die 2-stündige Rückfahrt komplett am Telefon verbrachte und mich mehrmals mit verschiedenen Mitarbeitern des Vermieters lautstark stritt bzw. offen anschrie. Mehrmals wurde mir das Telefon aufgelegt und ich hing da, wie ein tollwütiger Werwolf der nur noch Blut schmecken wollte.

Zuhause angekommen, hatten wir den KOMPLETTEN Keller unter Wasser. Kartons mit Bücher, Babyklamotten, Technik und alles andere was man sonst noch im Keller hat, alles unter Wasser.

Mein Bedürfnis nach Blut wurde immer größer und in dem Moment wäre ich, wenn der Vermieter vor mir gestanden hätte, zum Kannibalen geworden. Voller Wut stritt ich mich dann auch noch mit meiner Frau und während ich Kartons hin und her schmiss, rutschte ich irgendwie aus. Irgendwann konnte ich nicht mehr, ich ging nach oben um zu rauchen und um die Nerven wieder unter Kontrolle zu bringen.

Als ich die Zigarette vor der Haustür anzündete, merkte ich mit dem Ringfinger meiner linken Hand stimmt etwas nicht. Warum schaut er in die entgegengesetzte Richtung wo er hinschauen sollte?! WTF?!

Ich dachte nur „Oh man… Jetzt hast du dir auch noch den Finger ausgekugelt.“.

Ich packte den Finger und setzte ihn wieder in die richtige Richtung, zumindest soweit ich konnte. Aber es wurde nicht besser, die Schmerzen wurden jetzt stärker und der Finger wurde immer dicker. Ich beschloss ins Krankenhaus zu fahren um es mal röntgen zu lassen. Meine Frau war in der ganzen Zeit immer noch unten und räumte weiter auf; des Friedens willen wollte ich es auch dabei belassen. Also setzte ich mich ins Auto und fuhr alleine in die Klinik.

Dort angekommen, versuchte der Arzt den Finger erstmal komplett in die richtige Richtung zu setzen, ohne Erfolg. Die Schmerzen dabei, waren natürlich Hölle. Dann kam das Röntgen mit dem entsprechenden Ergebnis:

Der Finger war gebrochen. Und eine Operation wohl unumgänglich da es sich um ein Querbruch handelte. Ihr könnt Euch vorstellen wie es in mir brodelte und ich mich die ganze Zeit fragte ob ich evtl. der Hauptdarsteller einer Reality-TV-Show à la „The Truman Show“ bin. Werde ich gefilmt? Wann springt endlich der Kameramann hervor und hält mir ein Mikro vor die Nase und schreit „Überraschung, hier ist die versteckte Kamera!“?

Ich solle mich am nächsten Tag im Johanniter-Krankenhaus vorstellen und die Handchirurgen drüber schauen lassen. Die werden entscheiden was dann mit dem Finger gemacht wird.

Was ich aufgrund des Fingers noch erleben sollte, muss ich leider auf mehreren Posts verteilen denn es war soviel dass es hier den Rahmen sprengen würde. Es war aber klar, ich musste eine schwarze Katze gekreuzt haben oder es musste ein Fluch auf mich liegen. Es war nicht mehr normal was mir alles passierte.

Ihr könnt Euch daher ziemlich sicher sein: The Odyssey continues!